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Archetypen der Lehrerpersönlichkeit – Grundlage einer integrativen Pädagogik

Archetypen der Lehrerpersönlichkeit Foto: Monkey Business - Fotolia.com Archetypen der Lehrerpersönlichkeit

Seit 35 Jahren bin ich jetzt als Lehrer tätig. Und ich darf sagen: Ja, es macht mir immer noch Freude und gibt mir einen tiefen Sinn, Schülern Fachwissen zu vermitteln und sie bei ihrem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und Charakter- und Herzensbildung zu begleiten – auf ihrem Weg durch ihre Pubertät und hin zum Erwachsensein (Initiation). Doch das war nicht immer so.

Auf der Suche nach einem überzeugenden pädagogischen Modell

Denn vor ca. 20 Jahren hatte ich eine ziemliche Krise hinsichtlich meiner Motivation als Lehrer und es war zu befürchten, ein Burn-out zu bekommen. Ich hatte das Gefühl, dass mir als Pädagoge gerade im Umgang mit Jungenklassen noch etwas Entscheidendes fehlte. Erst als ich auf die US-amerikanische „School of lost Borders“ (www.schooloflostboarders.org) mit ihrem deutschstämmigen Gründer Steven Foster stieß, fand ich einen überzeugenden pädagogischen Ansatz, der mir die Augen öffnete und mir neue Motivation als Lehrer gab.

Als Ethnologe und jungianischer Psychologe hat Foster durch die Beobachtung des Initiations-Prozesses bei jugendlichen Indianern mit dem sogenannten „Lebensrad“ ein Modell entwickelt, das mir prädestiniert für die Selbstreflexion und die Psychohygiene als Lehrer erscheint: das Modell der menschlichen Seins-Ebenen und der Archetypen. Daraus habe ich dann das Modell der „Archetypen der Lehrerpersönlichkeit“ entwickelt, das Grundlage für eine „integrative Pädagogik“ sein kann.

Denn es will beim Lehrer und beim Schüler den ganzen Menschen erfassen, nicht nur einen kognitiven Teil von ihm. Ausgehend von einer ethnologischen Betrachtung des Menschen als ein universelles Gesamtsystem hat Foster vier menschliche Seins-Ebenen oder Wesenseigenschaften und vier entsprechende Archetypen auf einen Kreis projiziert, der wie bei einer Windrose die vier Himmelsrichtungen enthält. Jeder Richtung kann demnach eine Seins-Ebene und ein Archetyp zugeordnet werden. Archetypen kann man vereinfacht als „Seelenprägungen““ oder Seelenfiguren“ bezeichnen.

Diese Archetypen fand Foster, wenn auch sicher nicht unter diesem Stichwort jungianischer Psychologie, als psychische Qualitäten sowohl in den alten Erzählungen und Geschichten der indianischen Stammesgesellschaften wie auch im großen Schatz europäischer Märchen und Mythen: das „Kind“, den  „Krieger“, den „König“ und den „Magier“. Natürlich müssen diese Archetypen für die weibliche Psyche als „Kriegerin“, „Königin“ und „Magierin“ bezeichnet werden.

Archetypen der Lehrerpersönlichkeit – Grundlage einer integrativen Pädagogik

Das „Lebensrad“ als Modell der Archetypen der Lehrerpersönlichkeit

Die menschlichen Seins-Ebenen und Archetypen können wie folgt beschrieben werden:

Der Süden im Lebensrad: das „Innere Kind“

Im Süden sind der Körper und die körperlich-emotionale Ebene im Menschen anzusetzen. Als archetypische Figur gehört das „Kind“ in den Süden. Die Psychologie bezeichnet diesen Seelenaspekt auch als „Inneres Kind“. Ein Kind ist spontan, lebensfroh, natürlich, unbewusst, lebendig.

Man kann nur hoffen, dass sich jeder Pädagoge, egal wie alt er bereits ist, nicht nur rational, kontrollierend, nüchtern oder berechnend agiert und lebt, sondern sich ein Stück Kindheit und eine ursprüngliche Liebesfähigkeit bewahrt und sein „Inneres Kind“ stets zur Verfügung hat. Denn nur so kann er als Erwachsener auf die kindliche Ebene „switchen“, wenn es passend und im Unterricht notwendig ist. Er kann seine Schüler dort abholen, wo sie sich gerade geistig und vor allem emotional befinden und immer wieder spielerische Elemente in seinen Unterricht einbauen.

Der Westen im Lebensrad: der Krieger

Der Westen steht für die häufig sehr widersprüchlichen, meist unbewussten Seelenkräfte und damit für die psychische Ebene im Menschen. Gerade Jugendliche erleben ihre Pubertät häufig als Achterbahnfahrt zwischen gefühlsmäßigen Extremen. Im Westen geht es um Innenschau und Reflexion und um die zunehmende Loslösung von den Eltern.

Für diese Seelenqualität steht als Archetyp der „Krieger“. Er ficht für uns die inneren und manchmal auch äußeren Kämpfe aus, kämpft mit Dämonen, Zauberern und bösen Drachen, die unsere eigene Schattenseite symbolisieren, um schließlich den Schatz oder den Gral zu finden oder eine Prinzessin zu befreien. Der Krieger ist in der Lage, eine nach einem psychischen Wachstumsprozess zu eng gewordene alte Haut abzustreifen und uns durch eine Metamorphose zu einer neuen Identität und Authentizität als nun Erwachsener zu geleiten.

Die Kriegerqualität des Pädagogen ist gefragt, wenn gerade in wilden Pubertätsklassen Grenzen gesetzt werden müssen. Hier benötigen die Schüler bisweilen Orientierung und klare Ansagen und kein zu „softes Säuseln“. Der Lehrer muss also jeder Zeit seine Kriegerkraft zur Verfügung haben, um sich den nötigen Respekt bei Schülern zu verschaffen und ihre frisch erwachten Krieger zu domestizieren.

Archetypen der Lehrerpersönlichkeit – Grundlage einer integrativen Pädagogik

Der Norden im Lebensrad: der König

Der Norden enthält Klarheit, Struktur, Regeln und Übersicht in unserem Denken und Bewusstsein. Hier geht es um unseren Geist und Verstand. Dazu gehören die Fähigkeit und Bereitschaft, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Dem Norden ist somit die mental-systemische Ebene zuzuordnen.

Hier „wohnt“ der Archetyp des „Königs“ in uns, der mit Umsicht und Würde handelt. Beim König geht es um die Rolle des verantwortlichen und disziplinierten Erwachsenen in uns selbst. Jeder wirklich Erwachsene könnte daher als ein „König“ oder als „sein eigener König“ bezeichnet werden. Als Vater und Mutter sind König und Königin die Aufgabe übertragen, für ihre Kinder zu sorgen und sie zu beschützen. Zur Königsaufgabe des Lehrers gehört es, Fachunterricht zu erteilen, stets den Überblick über seine Klasse zu bewahren, schwächere Schüler zu fördern, Außenseiter mit einzubeziehen, Mitgefühl zu zeigen und bei der Persönlichkeitsentwicklung, Charakterbildung und Werteerziehung der Jugendlichen aktiv mitzuwirken.

Der Osten im Lebensrad: der Magier

Der Osten schließlich steht für die Weisheit und Gelassenheit des (hohen) Alters und für die spirituelle Ebene im Menschen. Hier ist die Offenheit für das Göttliche, das Transzendente, die Verbindung zum „All-Eins“ unserer Seele anzusetzen. Daher kann man im Osten des Lebensrades den Archetyp des „Magiers“ finden. Er bringt das Unerwartete, Überraschende, Intuitive, Kreative und Spirituelle in unseren Alltag. Somit stellt der Magier auch eine Herausforderung für den Geist und Verstand dar, der im Norden (als König) glaubt, alles kontrollieren und managen zu können.

Man kann den Lehrerberuf auf Dauer nur dann positiv gestalten, wenn man als Pädagoge in der Lage ist, seine Schüler – einem Magier gleich – immer wieder zu verzaubern: indem man ihnen seine Fächer begeisternd nahebringen, sie für Projekte motivieren oder für soziale Aufgaben gewinnen kann. Auch die Rollen als Seelsorger und Psychologe möchte ich beim Magier ansiedeln, wenn besonderes Einfühlungsvermögen gefragt ist: wenn ein naher Angehöriger oder ein geliebtes Haustier der Schüler gestorben ist, die Eltern sich gerade getrennt haben oder schulische Misserfolge zu verkraften sind.

Walkaway – Initiation Erwachsen werden für Schülerinnen und Schüler www.initiation-erwachsenwerden.de/walkaway.html

Bücher des Autors:

„Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“. ISBN: 978-3-95645-659-6      


 

„Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“ ISBN: 978-3-86991-404-6

 

„Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen“ ISBN: 978-3-86991-409-1

 

Nähere Infos und Buch-Bezug: 
www.initiation-erwachsenwerden.de

Mentor beim Erwachsenwerden: „Der Junge mit der Vaterwunde“

Vor einigen Jahren unterrichtete ich eine 10. Klasse in Physik. Schon ab der ersten Stunde fiel ein Schüler namens Peter sehr unangenehm auf. Er störte den Unterricht durch sehr beleidigende Zwischenrufe.

Da er dies trotz mehrfacher Ermahnungen nicht unterließ, sah ich mich gezwungen, Peter einen Verweis wegen seines störenden und beleidigenden Verhaltens auszustellen. Im anschließenden einstündigen Gespräch machte mir Peter den Vorwurf, dass ich genau so wie sein Vater sei und ihn demütigen und nicht ernst nehmen würde. Mein Argument, dass ja er es war, der von Anfang an den Unterricht gestört hätte, ließ Peter nicht gelten. Der Konflikt mit Peter ging über mehrere Monate weiter. Als Lehrer versuchte ich, zu ihm durchzudringen und die eigentliche Ursache für sein permanentes Stören und Beleidigen zu finden. Ohne Erfolg. Auch nach Verweis Nummer 2, 3 und 4 gab es jeweils ein sehr langes persönliches Gespräch, in dem sich Peter sehr verständig zeigte. Danach aber setzte er sein störendes Verhalten wieder fort. Kein Wunder, dass ich zunehmend an meinen pädagogischen Fähigkeiten zu zweifeln begann.

Solch einen hartnäckigen Fall hatte ich noch nie gehabt. Der Konflikt belastete mich immer mehr. Den Umschwung brachte erst eine Geburtstagsfeier am Ammersee, zu der mich eine Kollegin eingeladen hatte. Zu meiner Überraschung waren auch einige Schüler und Peter anwesend. Er konnte es gar nicht fassen, mich in der Freizeit als einen ganz Anderen zu erleben. Am Ende der Feier bat mich die Kollegin, Peter und noch eine andere Schülerin in meinem Auto mit nach München zu nehmen. Danach war Peter wie ausgewechselt. Was war passiert?

Peter war im Prozess der Initiation, also des Erwachsenwerdens und damit des Übergangs vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Dazu benötigte er einerseits die eigene Kriegerkraft, mit der er sich von seinem Vater ablösen konnte. Dieser nahm ihn nicht ernst, konkurrierte auch noch mit ihm und demütigte ihn, statt ihn, den werdenden Mann, in diesem fundamentalen Übergang zu unterstützen. Gerade deshalb suchte Peter einen externen Mentor, der ihn in der Tiefe verstand, ihn trotz seiner Eskapaden akzeptierte und ihn durch diese Krise des Erwachsenwerdens führte. Erst als mir dieser Zusammenhang bewusst wurde, konnte ich Peter in seinem Prozess beistehen. Einerseits verlangte Peter nach klaren Grenzen, also nach der Kriegerkraft im Lehrer. Andererseits gehörte es zu meiner Königsaufgabe, Peter Orientierung zu geben und ihm bei dem schwierigen Übergang zum Erwachsenen zu helfen. Die langen Gespräche waren offensichtlich genau das, was Peter suchte und in denen er mein Verständnis für ihn spüren konnte. Dabei wurde mir bald klar, wie sehr Peter unter seinem „unerwachsenen“ Vater zu leiden hatte. Vielleicht war es aber auch der Magier in mir, der instinktiv und intuitiv endlich den Zugang zu Peter fand und Mitgefühl für ihn entwickelte; vielleicht gab schließlich mein Inneres Kind den Ausschlag, mit dem ich mich gerade bei dieser Geburtstagsfeier ziemlich ausgelassen zeigte. Jedenfalls war nach dieser Geburtstagsfeier das Eis gebrochen, Lehrer und Schüler hatten sich endlich gefunden. Disziplinschwierigkeiten gab es danach nicht mehr. Am Ende des Schuljahres erklärte mir Peter dann freimütig, dass ich einer seiner wichtigsten Lehrer geworden sei.

Fazit: Bei dem ganzen Prozess mit Peter waren alle vier Archetypen gefordert. Mir als Lehrer hat das Wissen um die Archetypen der Lehrer- und Schülerpersönlichkeit sehr geholfen, um die Lage von Peter zu verstehen und doch noch mit ihm zurecht zu kommen. Gerade durch ihn habe ich die Archetypen in mir selbst in ihrer Tiefe erleben und Peter als Gesamtpersönlichkeit besser erfassen können. Dafür bin ich diesem Schüler sehr dankbar. Ich werde Peter nie mehr vergessen...

 
Letzte Änderung amDienstag, 07 März 2017 14:37
Peter Maier

Peter Maier wurde 1954 in einer kleinen Gemeinde in Ostbayern geboren. Er besuchte das Gymnasium, absolvierte die Bundeswehr als Sanitäter und studierte anschließend das Lehramt für Gymnasien.

Vor Beginn des Referendariats unterrichtete er 1981 für ein halbes Jahr an einer Secondary School in Kenia. Seit Herbst 1981 ist er als Lehrer an Gymnasien in Bayern tätig. Er hat einen erwachsenen Sohn.

Neben dem Staatsexamen hat der Autor mehrere Zusatzausbildungen abgeschlossen:

  • - zum Gruppenleiter in Themenzentrierter Interaktion (TZI) nach Ruth Cohn
  • - zum Supervisor an einem Institut, das nach dem Standard der DGSV ausbildet
  • - zum Initiations-Mentor in der Tradition der amerikanischen „School of lost Borders“.

Langjährige Fortbildungen in integrativer Pädagogik, Gruppendynamik, initiatischer Therapie und christlicher Kontemplation. Selbsterfahrung mit Visionssuchen, Familienaufstellungen und in der Männer- und Ritualarbeit. 

Von 2008-2015 führte der Autor mit Jugendlichen alljährlich das naturpädagogische Initiations-Ritual des WalkAway durch. Als Initiations-Mentor begleitet er Jugendliche bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung und auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden.

Durch seine Bücher über Initiation und Pädagogik, durch Vorträge sowie durch eine Reihe von Artikeln in pädagogischen Fachmagazinen und Zeitschriften gibt der Autor die Essenz seiner langjährigen Erfahrungen als Lehrer und Initiations-Mentor weiter. In Zeiten einer beständigen Reformtätigkeit im Schul- und Bildungsbereich plädiert er leidenschaftlich für eine integrative Pädagogik mit Herz und Verstand und für eine menschliche Schule.

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